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Da stehen wir nun vor verschlossenen Gym Türen. Eine Situation, welche vor einiger Zeit noch unvorstellbar schien. Für manche glich das dem Todesurteil für all die hart erarbeiteten Muskeln. Doch die, die damit umzugehen wussten, gewannen auch daraus positive Erkenntnisse. Dass man sich tatsächlich auch im Homegym wunderbar entwickeln kann. Oder die eher negative Erkenntnis, wie schwer es sein kann, während eines Lockdowns an neues Equipment zu kommen. Besonders wenn der Kilogramm Preis einer Gewichtsscheibe sich fast schon dem Goldpreis angleicht.

Nicht vorhersehen konnte ich persönlich, wie diese ungewöhnlichen Umstände, meine Art zu trainieren verändern wird. In über 10 Jahren Training häuft sich so einiges an Wissen und Meinungen an. Es entsteht ein relativ festes Bild, wie Training zu sein hat, von welchem man so schnell auch nicht mehr loslässt. Schließlich denkt und trainiert das Umfeld ja auch so.

Nach nun einigen Wochen und mittlerweile Monaten im Hometraining begann mein Unterbewusstsein plötzlich Fragen nach oben zu werfen. Habe ich eigentlich Bock, daheim zwei Stunden am Stück zu trainieren? Welche Übungen mache ich weil sie im Plan stehen und welche bringen mir die besten Resultate? Wie oft in der Woche trainiere ich gerne? Bisher war mein Weg und das Wie ich trainiere immer vorgegeben. Doch seit Corona gibt es für mich erstmal kein konkretes Ziel, das von außen vorgegeben ist. Kein Wettkampfdatum auf das ich hintrainiere oder ein Körpergewicht, welches ich zb. für meine Strength Coach Ausbildung erreichen musste. Dadurch das diese Ziele fehlten, gewannen andere Dinge an Bedeutung: Wie kann ich möglichst effektiv trainieren, was macht mir wirklich Laune im Training? Sehe ich nur fit aus oder schaffe zB. auch eine 7-stündige Wanderung? Von heute auf morgen habe ich entschieden, meine gewohnten Trainingspfade zu verlassen und mal nur auf mein Gefühl zu hören, wohin es mich zieht.

Zeitersparnis

Die krasseste Veränderung durch das Training in den eigenen vier Wänden war der Zeitgewinn. Früher hat alleine schon das Packen meiner Sporttasche gefühlt eine halbe Stunde gedauert. Powerlifting Schuhe, Wristwraps, Zughilfen, Klammern, Trinken, PWO Shake und dann noch eine gute halbe Stunde Anfahrt. Zu dieser Zeit mochte ich diesen Prozess und das oftmals bis zu dreistündige Training. Ein großer Teil meines Lebens galt dem Sport und Powerlifting war etwas, mit dem ich mich identifizierte.

Heute? Shirt ausziehen, Hose weg.. ab geht’s! Ich habe festgestellt, es gibt nichts Besseres als in Shorts zu trainieren. Bei lauter Musik. Sich richtig hochpushen. Nach dem letzten Satz einfach auf den Boden fallen lassen. Die Playlist wechseln. Augen schließen und in eine tiefe Meditation fallen.

Cluster Training

Der Zeitgewinn gefiel mir und auch die Zeit im Training wollte ich effektiver gestalten. Deswegen habe ich mich kurzerhand von den 2-5 minütigen Satzpausen verabschiedet, wie ich sie aus dem Powerlifting gewohnt bin. Hauptübungen wie Kreuzheben, Kniebeugen, Bankdrücken, Schulterdrücken und Klimmzüge führe ich nun großteils in Clustern aus. Hier nehme ich ein Gewicht mit dem ich innerhalb von ein paar Wiederholungen ans Koordinationsversagen stoße. Statt weiterzumachen bis zum Muskelversagen pausiere ich hier kurz, nehme ein paar tiefe Atemzüge und mache dann weiter. So lange, bis trotz kleiner Pausen keine sauberen Wiederholungen mehr möglich sind. So schaffe ich es, mehr Gewicht in kürzerer Zeit zu bewegen und einen möglichst großen Trainingsreiz zu setzen, ohne mein Nervensystem komplett totzureiten. Der Fokus liegt dabei auf den Grundübungen, um möglichst viele Muskeln gleichzeitig zu trainieren. Trainingsdauer: Maximal 60 Minuten und ich bin durch. 4x die Woche. Die Trainingszeit hat sich dadurch von 12 Stunden die Woche auf 4 Stunden reduziert, bei einer weiterhin besser werdenden Körperform und steigenden Umfängen von zB. 1 cm mehr Oberschenkelumfang pro Monat.

Deloads

Auf den Körper hören ist das Motto. Früher war alles eingeplant und vorgegeben. Auch mein Deload. Entweder wurde das Gewicht und die Intensität reduziert für eine Woche oder für 4 Tage komplett pausiert.
Heute benötige ich kaum Deloads. Und wenn doch, dann pausiere ich komplett bis zu einer ganzen Woche. Das gibt mir Zeit, nicht nur körperlich sondern auch mental abzuschalten und mich mit anderem zu beschäftigen. So habe ich zB. meine Begeisterung für lange Wanderungen entdeckt.

Welches Equipment ist nötig?

Meine Ausrüstung im Home Gym beschränkt sich auf die Grundlagen. Langhantel, ein Paar Kurzhanteln, eine Bank und ein Rack. Viel mehr benötigt man nicht. Idealerweise noch eine Klimmzugstange oder noch besser: Ringe. Mit Ihnen kannst Du nicht nur wunderbar Klimmzüge, Rudern und Dips machen, sondern trainierst Deine stabilisierenden Muskeln gleich mit und perfektionierst Deine Körperbeherrschung.

Spontanität

Eine Sache die ich auch sehr zu schätzen gelernt habe, war trainieren zu können wann ich wollte. Egal ob am Vormittag oder abends. Wenn ich mich energiegeladen fühlte schwang ich mich unter die Hantel. Das Home Gym hat 24/7 offen und die Anfahrt dauert vom Sofa aus 7 Sekunden. Sobald ich merke, ich benötige wieder mehr Struktur, dann lege ich wieder eine fixe Trainingszeit fest. Solange bis mich diese Struktur einengt und ich das ganze wieder lockerer angehe.
Pläne und Systeme geben uns Sicherheit und Struktur. Doch wir als Menschen sind alles andere als linear funktionierende Wesen. Dementsprechend habe ich gelernt, mir immer nur so viel Struktur zu geben, wie mir gut tut.

Diese ganze Entwicklung, hat sich in den letzten Wochen nochmal beschleunigt. Ich habe keinen festen Trainingsplan mehr. Stattdessen trainiere ich an jedem Trainingstag meinen gesamten Körper. 5-6x die Woche in kurzen Einheiten. Dieser Ansatz ist extrem und erfordert viel Körpergefühl. Da wo starre Pläne an ihre Grenzen stoßen, beginnt intuitives, autoreguliertes und spielerisches Training. Es ist mein Selbstexperiment, meinen Körper noch besser kennenzulernen und zu erfahren, zu was er im Stande ist. Dabei gehe ich weiterhin effizient vor, indem ich zB. Cluster nutze und genieße einfach jederzeit, spontan zu Hause trainieren zu können. Mein nächster Schritt ist ohne tägliches Tracking meiner Kalorien und des Körpergewichts klar zu kommen und dennoch Fortschritte zu machen. Das muss ich können, sobald ich schon in naher Zukunft auf Reisen in verschiedenen Ländern, immer unterschiedliche Trainingsmöglichkeiten vorfinden werde – aber keine Küchenwaage.